Ich mach Sachen!
Ja, ich gebe es zu: Ich habe mit Band 2 angefangen, obwohl Band 1 noch immer ungelesen im Regal steht und mich mit vorwurfsvollem Blick anschweigt. Ein Sakrileg in der Welt der Buchliebhaber? Möglicherweise. Aber wisst ihr was? Manchmal trifft man mitten ins Herz, ohne den Anlauf je gekannt zu haben. Und genau so ging es mir mit „Jenseits des Ozeans“ von T.J. Klune – der Fortsetzung von Mr. Parnassus’ Heim für magisch Begabte.
Willkommen auf der Insel Marsyas – einem Ort, der so voller Liebe, Hoffnung und Magie steckt, dass ich beim Lesen ganz vergessen habe, dass ich eigentlich in einem ganz gewöhnlichen Wohnzimmer saß. Zwischen Himmel und Meer, irgendwo im Nirgendwo, liegt dieses ganz besondere Waisenhaus für magisch begabte Kinder. Doch es ist kein Ort, der auf Mitleid ausgelegt ist. Nein – Marsyas ist Zuflucht, Zuhause, Familie. Und seine Bewohner sind so lebendig, so schrullig, so wunderbar unperfekt, dass man am liebsten selbst einziehen möchte.
Im Mittelpunkt stehen Arthur Parnassus – der sanfte, fürsorgliche Heimleiter mit einer geheimnisvollen Vergangenheit – und Linus Baker, sein Partner, der einst als grauer Bürokrat auf die Insel kam und nun mit ganzem Herzen dazugehört. Die beiden führen ein stilles, aber inniges Leben – umgeben von einer Kinderschar, die lauter ist als jedes Gewitter, chaotischer als jede Zauberschule und liebevoller als so mancher Familienbrunch.
Doch dann zieht David ein – ein Yeti-Junge mit klugen Augen und leisen Worten. Zunächst auf Probe. Und mit ihm kommt nicht nur ein neues Gesicht, sondern auch ein Sturm aus Arthurs Vergangenheit, der droht, alles zu zerstören, was er sich so mühsam aufgebaut hat.
Was T.J. Klune hier gelingt, ist ein Kunststück: Er erzählt von Ausgrenzung und Diskriminierung, von innerer Zerrissenheit und gesellschaftlicher Kälte – und trotzdem ist da Wärme. So viel Wärme. Die Geschichte ist durchzogen von Humor, von absurder Situationskomik und bittersüßer Weisheit. Miss Marblemaw zum Beispiel, die resolute Dame mit Hang zur Überdramatisierung, stiehlt so manche Szene und bietet selbst dem Antichristen und rebellischen Pflanzen die Stirn. Ja, wirklich – es ist so herrlich absurd, wie es klingt.
Und dann sind da die Kinder. Diese wilden, einzigartigen, so ganz und gar besonderen Kinder. Sie lieben, lachen, kämpfen – und vor allem: Sie akzeptieren. Ohne Bedingungen. David ist neu, David ist anders – aber nie ist das ein Problem. Kein „Aber“, kein „Trotzdem“. Nur: „Willkommen.“
Der Schreibstil? Eine Welle aus Emotionen. Mal sanft, mal ungestüm. Mal voller Melancholie, mal kindlich verspielt. Man merkt jeder Zeile an, wie sehr Klune seine Figuren liebt. Und wie sehr er daran glaubt, dass die Welt – trotz aller Dunkelheit – gut sein kann, wenn wir nur den Mut haben, sie so zu gestalten.
Obwohl ich Band 1 noch nicht gelesen habe (und das nun DRINGEND nachholen werde), hatte ich nie das Gefühl, verloren zu sein. Im Gegenteil: Ich wurde mit offenen Armen empfangen – genau wie David.
„Jenseits des Ozeans“ ist eine Hymne auf das Anderssein, auf die Kraft von Gemeinschaft, auf die Magie des Alltäglichen. Es ist ein Buch, das einem das Herz wärmt – selbst wenn draußen ein Sturm tobt.
Ich hoffe, T.J. Klune ist mit dieser Welt noch lange nicht fertig. Denn ich bin es auch nicht.
Und jetzt? Werde ich Band 1 lesen. Mit einem Lächeln im Gesicht und einem Herzen, das ein bisschen voller ist als vorher.