Kann man Erwartungen wirklich abschalten?
Ich versuche es immer wieder. Versuche, jedes neue Buch unvoreingenommen zu lesen – ohne den Schatten vorheriger Lieblingsbücher, ohne den Hype, der durch Bookstagram schwappt. Und doch: Sobald ein bekanntes Autor:innenname auf dem Cover steht, schleichen sich Erwartungen ein. Heimlich. Leise. Und manchmal eben auch zu laut.
So ging es mir auch mit „Mittsommer“ von Lucy Foley. Nachdem ich „The Guest List“ und „The Hunting Party“ nahezu verschlungen habe, war ich voller Vorfreude – und ja, auch mit einem kleinen Maß an Voreingenommenheit. Denn Foley steht für clever konstruierte Spannungsbögen, psychologische Tiefe und dieses typische, leicht klaustrophobische Gefühl in abgelegenen Settings. Entsprechend hoch war meine Messlatte. Vielleicht zu hoch?
Worum geht’s?
Mittsommer an der Küste Dorsets.
Ein neues Luxushotel, The Manor, öffnet seine Tore – stilvoll, exklusiv, abgeschieden. Zum Eröffnungswochenende wird groß aufgefahren: Kulinarische Highlights, ein sommerliches Ambiente unter alten Bäumen, fließender Champagner und Gäste, die teils glamourös, teils geheimnisvoll wirken. Doch was als mondäne Sommerfeier beginnt, kippt zunehmend in Spannung, Misstrauen und dunkle Andeutungen.
Die Stimmung wird getrübt durch Jugendliche aus dem nahegelegenen Dorf, die sich lautstark gegen die Enteignung „ihres“ Waldes wehren. Die Spannungen wachsen. Alte Konflikte brodeln hoch. Und noch bevor die Nacht vorbei ist, brennt das Hotel – und eine Leiche liegt an den Klippen, zwischen ihren Fingern eine ölig-schwarze Feder. Der Rabenvogel, der immer wieder durch die Geschichte flattert, scheint mehr als nur ein Symbol zu sein …
Mein Eindruck
Lucy Foley bleibt sich treu: Sie erzählt nicht nur eine Geschichte, sondern entwirft ein Setting, das fast selbst zur Figur wird.
Die Küste, der Wald, das luxuriöse Hotel – alles ist durchzogen von Symbolik, Spannung und leiser Bedrohung. Der Stil ist atmosphärisch, ruhig, manchmal geradezu poetisch. Aber: Wer einen nervenzerreißenden Thriller erwartet, könnte überrascht sein.
Denn Mittsommer ist eher ein psychologisches Kammerspiel als ein klassischer Page-Turner. Der Spannungsbogen ist subtil, fast zögerlich. Lange Zeit bleibt vieles vage, Andeutungen häufen sich, Andeutungen, die man nicht sofort einordnen kann.
Was mir gut gefallen hat:
- Der Schreibstil: klar, bildhaft, fein komponiert.
- Die Perspektivwechsel: Jeder Charakter bringt seine eigene Sicht, seine eigenen Abgründe ein.
- Die düstere Grundstimmung, die wie ein Schleier über allem liegt.
Was mir gefehlt hat:
- Ein wenig mehr Tempo. Gerade im Mittelteil hätte ich mir mehr Dynamik gewünscht.
- Eine Figur, mit der ich wirklich mitfühlen konnte. Sympathie bleibt hier optional, was gut gemacht, aber auch fordernd ist.
Fazit
„Mittsommer“ ist ein leiser, vielschichtiger Thriller, der weniger auf laute Schockmomente setzt, sondern auf unterschwellige Spannung, Atmosphäre und psychologische Tiefe.
Für mich persönlich war es nicht das stärkste Buch von Lucy Foley – aber eines, das durch seine stille Intensität durchaus überzeugt. Vielleicht lag es an meinen Erwartungen. Vielleicht aber auch daran, dass Foley sich weiterentwickelt – in eine Richtung, die Raum für Reflexion statt Adrenalinkicks lässt.
Ich bin froh, dass ich dem Buch eine Chance gegeben habe. Es hat mich zwar nicht völlig umgehauen, aber unterhalten, beschäftigt und zum Nachdenken gebracht. Und manchmal ist genau das der wahre Wert einer Geschichte.
✨ 4 von 5 Sternen
Ein atmosphärischer Sommerthriller mit Tiefgang, Symbolik und einem Hauch rabenschwarzer Magie.
📚 Wie geht es euch mit Erwartungen an bekannte Autor:innen? Könnt ihr sie abschalten – oder beeinflussen sie euer Leseerlebnis auch so sehr wie meins? Ich bin gespannt auf eure Gedanken!