‚Haltlos‘ von Sarah Nisi

Es gibt Thriller – und es gibt Psychothriller. Für mich ist das die Königsdisziplin unter den Spannungsromanen. Diese besondere Mischung aus Nervenkitzel, psychologischer Tiefe und subtiler Bedrohung hat ihren ganz eigenen Reiz. Wenn dann auch noch eine Autorin wie Sarah Nisi dahintersteckt, weiß ich: Hier erwartet mich kein 08/15-Plot.

Und genau so war es…

Haltlos‘ von Sarah Nisi – Wenn dir dein Gedächtnis den Boden unter den Füßen wegreißt

Worum geht’s in Haltlos?

Emily ist gefangen – nicht in einem Keller oder einem finsteren Wald, sondern in sich selbst. Nach dem plötzlichen Tod ihrer besten Freundin Liv, die vor drei Monaten vor Emilys Augen auf die Gleise der Londoner U-Bahn stürzte, ist nichts mehr wie vorher. Sie war dabei – und doch erinnert sie sich nicht. Das Trauma hat eine Amnesie ausgelöst. Studium weg, Alltag weg, soziale Kontakte bröckeln. Was bleibt, ist die drängende Frage: War es wirklich ein Unfall? Oder steckt mehr dahinter?

Während die Polizei die Sache längst ad acta gelegt hat, spürt Emily tief in sich, dass etwas nicht stimmt. Doch je mehr sie versucht, ihre Erinnerungen zurückzuholen, desto größer wird das Gefühl, selbst Teil eines düsteren Puzzles zu sein. Warum weichen alle ihren Fragen aus? Warum fühlt sich die Wahrheit so gefährlich an?

Die Stärke des Buchs liegt in der Atmosphäre.

Ich habe das Buch gelesen und gleichzeitig die Szenen fast körperlich gespürt. Der Londoner Untergrund – mit seinem kalten Licht, dem metallischen Bahnwind, dem dunklen Tunnelrauschen – wurde für mich fast zur Hauptfigur. Ich konnte förmlich riechen, wie es an einer feuchten Station riecht. Sarah Nisi hat hier ein grandioses Gespür für Stimmung, ohne sich in endlosen Beschreibungen zu verlieren. Alles ist auf den Punkt – und gerade deshalb so intensiv.

Was mich beeindruckt hat:

Die Handlung ist clever konstruiert, ohne künstlich zu wirken. Es gibt keine billigen Schockeffekte, sondern eine konstante Spannung, die sich aus dem Innenleben der Figuren nährt. Emily als Hauptfigur ist greifbar, verletzlich, manchmal schwer zu ertragen – und gerade deshalb glaubwürdig. Ihre Verzweiflung, ihre Unsicherheit, ihr Wunsch nach Wahrheit sind durchweg spürbar. Die Nebenfiguren, ob Freunde, Familie oder Ermittler, tragen alle ein kleines Stück Unruhe bei – und die Frage „Wem kann ich trauen?“ zieht sich wie ein dunkler Faden durch die Geschichte.

Was mir gefehlt hat:

Ein kleines Highlight, ein überraschender Schlag ins Gesicht – das hat mir ein wenig gefehlt. Der Thriller ist durchweg spannend, atmosphärisch dicht und psychologisch raffiniert, aber ein richtiger Wow-Moment blieb aus. Vielleicht bin ich da auch schon etwas abgehärtet – wer weiß?

Haltlos ist ein leiser, dafür umso intensiverer Psychothriller, der nicht mit Blut oder Gewalt schockt, sondern mit dem Gefühl, dass die Realität Risse bekommt. Sarah Nisi bleibt ihrem Stil treu: klug, psychologisch feinfühlig, spannend bis zur letzten Seite.

Für mich war es ein packender Lesegenuss – nicht revolutionär, aber absolut empfehlenswert.

Ich vergebe 4 von 5 Sternen und freue mich schon jetzt auf weitere Bücher der Autorin.

Und ihr?

Mögt ihr Psychothriller mit psychologischem Tiefgang oder braucht ihr den großen Knall? Und hat euch ein Buch schon mal paranoid gemacht beim Bahnfahren?