‚Je tiefer der Wald‘ von Daniel Kohlhaas

Was würdest du tun, wenn dein Kind einfach verschwindet – und zehn Jahre später steht jemand vor dir, der behauptet, es zu sein?

Lange, wirklich lange hat es gedauert, bis Daniel Kohlhaas endlich einen Nachfolger zu Kleine Engel veröffentlicht hat. Und mal ehrlich – wer den damaligen Thriller gelesen hat, weiß, dass Kohlhaas kein Autor ist, der einfach nur eine spannende Geschichte erzählt. Er gräbt tiefer. Viel tiefer. In die Psyche seiner Figuren, in die dunklen Ecken der menschlichen Seele – und genau das macht seine Bücher (aktuell sind es 2) so besonders.

Jetzt also ‚Je tiefer der Wald‘ – schon der Titel verspricht, dass es nicht an der Oberfläche bleibt. Ob sich das Warten gelohnt hat? Oh ja. Und wie!

Schon die erste Szene hat mich gepackt. Ein Wald, eine Familie, ein Spaziergang – und dann: das Unfassbare. Die kleine Leni verschwindet spurlos. Kein Schrei, keine Spur, nichts. Zurück bleiben nur ihre Eltern, Julia und Sebastian, und ein Leben, das von Schuld, Schmerz und Hoffnung zerrissen wird. Zehn Jahre später – und das ist der Moment, der einem fast die Luft nimmt – taucht plötzlich ein Mädchen auf. Sie spricht nur ein einziges Wort: Leni.

Ab hier beginnt das, was Kohlhaas einfach perfekt beherrscht: dieses Spiel mit Zweifeln, mit der Frage, wem man glauben kann – und ob man überhaupt glauben will. Ist dieses Mädchen wirklich die verschwundene Tochter? Und wenn ja – was ist in all den Jahren mit ihr passiert?

Mitten in diesem emotionalen Chaos steht Dr. Vinzenz Reker, ein erfahrener Kinder- und Jugendpsychologe, der das Mädchen betreut. Durch seine ruhige, analytische Sicht erleben wir die beklemmenden Therapiesitzungen, das vorsichtige Herantasten an die Wahrheit. Doch je mehr Leni preisgibt, desto größer wird das Unbehagen. Denn was sie erzählt, ist kaum zu ertragen – und doch so glaubhaft, dass man nicht anders kann, als mitzufühlen, mitzuleiden, mitzuzweifeln.

Parallel dazu erleben wir Julias Perspektive – die Mutter, die jahrelang zwischen Hoffnung und Verzweiflung lebte. Sie ist keine einfache Figur, und genau das macht sie so real. Sie liebt, sie zweifelt, sie misstraut – und man spürt förmlich, wie diese Emotionen an ihr nagen. Ihre Kapitel sind bedrückend, manchmal schmerzhaft ehrlich, aber genau das macht den Reiz aus.

Was mich an ‚Je tiefer der Wald‘ wirklich beeindruckt hat, ist diese dichte Atmosphäre. Man spürt förmlich die Kälte des Waldes, die Schwere des Schweigens, das zwischen den Figuren hängt. Der Schreibstil ist klar, intensiv und emotional auf den Punkt. Kurze Kapitel treiben die Handlung voran, und trotzdem hat jedes Wort Gewicht. Kohlhaas schreibt, als würde er einen Seelenstriptease in Thrillerform inszenieren – roh, echt, ungeschönt.

Und das Ende? Ich sag nur: Gänsehaut.

Diese Auflösung hat mich komplett überrumpelt – so beklemmend, so erschütternd, dass ich das Buch tatsächlich erstmal zuklappen und tief durchatmen musste. Kein billiger Schockmoment, sondern eine Wendung, die sich langsam, aber mit voller Wucht entfaltet.

Je tiefer der Wald‘ ist kein Thriller, den man einfach „wegliest“. Er arbeitet in einem nach, kriecht unter die Haut, bleibt da. Daniel Kohlhaas hat hier einen Psychothriller geschaffen, der weit über klassische Spannung hinausgeht – es ist eine Studie über Verlust, Identität und die Abgründe, die in uns allen schlummern.

Düster, eindringlich, herzzerreißend – und absolut lesenswert.

⭐️ 4,5 / 5 Sterne

Für alle, die nicht nur Nervenkitzel, sondern auch Tiefe suchen – lesen, fühlen, verarbeiten.

Ich sag’s, wie’s ist: Nach diesem Buch werd ich mein Kind nie wieder ohne GPS-Tracker in den Wald lassen 😅