Manche Bücher müssen nicht brandneu sein, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Ich greife nämlich nicht immer nur zu den aktuellen Hype-Titeln – manchmal entdecke ich Geschichten, die schon eine Weile auf dem Markt sind, aber erst jetzt ihren Weg zu mir finden. So wie „Das Dorf der toten Seelen“ von Camilla Sten, ein Debütroman, der Mystery, düsteren Horror und skandinavisches Crime-Feeling miteinander verwebt.
Schon die Prämisse hat mich neugierig gemacht: Eine junge Dokumentarfilmerin reist mit ihrem Team in ein verlassenes Dorf, in dem vor 60 Jahren alle Bewohner spurlos verschwanden – und das unter Umständen, die nie aufgeklärt wurden. Der Ort: Silvertjärn. Tief in den Wäldern, abgeschnitten von der Außenwelt. Klingt vertraut? Ja, das Thema ist nicht neu – verlassene Orte, rätselhafte Vergangenheiten, ein Team mit persönlichen Verstrickungen. Aber Camilla Sten schafft es, diesem „Lost Place“-Setting eine ganz eigene, schwedisch-authentische Note zu verleihen.
Die Atmosphäre ist definitiv eine der großen Stärken des Buches. Die verlassenen Holzhäuser, der umwucherte Wald, das Gefühl völliger Isolation – man hat beim Lesen fast das Gefühl, den Moder alter Möbel und das Knirschen von Glas unter den Füßen zu riechen und zu hören. Es ist genau diese düstere Grundstimmung, die das Buch trägt und für mich zu einem echten Pageturner gemacht hat – zumindest in der zweiten Hälfte.
Denn ja, bis dahin braucht es ein wenig Geduld. Die erste Hälfte wirkt stellenweise stockend. Der Schreibstil zu Beginn ist spröde, fast nervös. Die Sätze kurz, manchmal zu abgehackt. Man merkt, dass dies ein Debüt ist – ambitioniert, voller Ideen, aber anfangs noch etwas unrund. Ich musste mich hineinfinden, durchbeißen, weil der Einstieg trotz des spannenden Themas nicht ganz zünden wollte. Doch sobald die Handlung Fahrt aufnimmt, verändert sich auch der Stil: flüssiger, packender, dichter.
Was mir leider gefehlt hat, waren tiefer gezeichnete Charaktere. Hauptfigur Alice bekommt Raum – ihre Motivation, ihre Vergangenheit, ihre Verbindung zum Ort. Aber beim Rest des Teams blieb vieles an der Oberfläche. Gerade bei Robert und Max hätte ich mir mehr Tiefe gewünscht, vor allem, da Letzterer eine gemeinsame Geschichte mit Alice hat, die angedeutet, aber nie wirklich ausgearbeitet wird. Auch Tone, deren Verbindung zu Silvertjärn wichtig gewesen wäre, blieb mir zu blass. Ich hätte mir gewünscht, näher an den Figuren zu sein, emotional eingebundener.
Trotzdem: Sobald der mysteriöse Teil der Geschichte richtig losgeht, entsteht ein regelrechter Sog. Der Wechsel zwischen den Zeitebenen – einmal die Gegenwart und dann Rückblicke ins Jahr 1959 – funktioniert gut, auch wenn die „Damals“-Kapitel anfangs etwas zäh wirken. Nach und nach aber fügen sich die Puzzleteile zusammen, und man merkt: Da ist mehr unter der Oberfläche. Die Vergangenheit des Ortes entfaltet eine bedrückende Tragik, die mich am Ende doch berührt hat.
Der Showdown kommt für meinen Geschmack etwas zu plötzlich, der Epilog fehlt mir komplett – gerade bei einer Geschichte, die so viele Fragen aufwirft, hätte ich mir ein etwas runderes, nachklingenderes Ende gewünscht. Dennoch: Ich habe das Buch nicht aus der Hand legen können. Und auch wenn nicht alles perfekt war, hat es mich letztlich gut unterhalten.
Mein Fazit?
Ein atmosphärisch dichtes Debüt mit kleinen Schwächen, das aber besonders durch Setting und Stimmung überzeugt. Für Fans von Scandi Noir, Mystery und verlassenen Orten definitiv eine Empfehlung – wenn man bereit ist, sich durch den etwas sperrigen Einstieg zu arbeiten. Camilla Sten hat hier einen vielversprechenden Auftakt hingelegt, und ich bin sehr gespannt, wie sich ihr Stil in weiteren Büchern entwickeln wird. Da schlummert großes Potenzial – und ich bin sicher, da kommt noch was.
⭐️⭐️⭐️ 3 von 5 Sternen – mit Lust auf mehr.