Rebekah Stoke – „Jägerskind“

Es gibt Autorinnen, die schleichen sich still und leise ins Bücherregal – und dann mit Wucht ins Herz. Rebekah Stoke ist für mich genau so eine Entdeckung gewesen. Nach „Das Versteck“ hatte ich schon geahnt, dass da noch Großes kommt. Und mit „Jägerskind“ hat sie es bestätigt. Düster, verstörend, psychologisch messerscharf – dieses Buch ist nichts für zarte Gemüter, aber ein absolutes Muss für alle, die sich gern in den Abgrund menschlicher Seelen blicken lassen.

Rebekah Stoke – „Jägerskind“: Ein bitterböser Psychothriller, der unter die Haut geht

Willkommen in St. Martinville, Louisiana. Ein Ort, der auf den ersten Blick friedlich wirken mag – doch die Wahrheit liegt wie eine schwere, schwüle Luft über der Stadt, durchdrungen von dem Morast, der ringsum in den Sümpfen brodelt. Genau dort treibt ein Serienkiller sein perfides Spiel: junge Frauen verschwinden, um später gefesselt, nackt und mit einem Sack über dem Kopf in den Sümpfen wieder aufzutauchen. Die Todesursache: ein gezielter Gewehrschuss in den Rücken. Präzise. Eiskalt. Gnadenlos. Die Stadt nennt ihn nur „den Jäger“. Und der Jäger kommt, wenn die Dunkelheit fällt.


Im Zentrum dieser Geschichte steht Michelle Noland, Ehefrau, Mutter – und zunehmend von einem Gefühl der Beklemmung umfangen. Ihr Mann Clark verhält sich seit Beginn der Mordserie auffällig distanziert, und auch ihr Sohn Lee wird immer stiller, immer seltsamer. Die beklemmende Frage wächst: Was, wenn der Mörder näher ist, als sie es je für möglich gehalten hätte?

Was „Jägerskind“ so bemerkenswert macht, ist nicht nur die fesselnde Handlung oder das perfekte Zusammenspiel aus Atmosphäre, Spannung und Abgründigkeit. Es ist Rebekah Stokes Fähigkeit, Figuren zu zeichnen, die nicht glatt, nicht perfekt, nicht einmal durchgehend sympathisch sind – sondern echt. Zerbrochen, zweifelnd, wütend, manchmal grausam. Und genau deshalb so faszinierend. Jeder in dieser Geschichte hat seine Schattenseite. Jeder trägt ein Geheimnis in sich, das beim Lesen wie ein Echo zwischen den Seiten widerhallt.

Zugegeben: Der Einstieg fiel mir nicht leicht. Es gibt viele Figuren, viele Beziehungen, viele Fäden, die zunächst scheinbar lose durch das Sumpfgebiet dieser Geschichte mäandern. Doch irgendwann beginnt sich alles zu verknüpfen, und was vorher wirr schien, wird zu einem dichten Netz – aus Schuld, Angst, Misstrauen und uralten Familienkonflikten. Und plötzlich kann man nicht mehr aufhören zu lesen.

Die Stimmung ist beklemmend, schwer, fast greifbar. Sie erinnert an alte Südstaaten-Romane, an flirrende Hitze, knarzende Holzveranden und das leise Summen von Insekten im Hintergrund – nur dass unter dieser Oberfläche nichts Schönes schlummert. Sondern nur Fäulnis. Und Schmerz. Ein bisschen fühlt es sich an, als hätte „Das Schweigen der Lämmer“ mit „True Detective“ eine düstere Affäre gehabt – und „Jägerskind“ wäre das literarische Kind daraus.

Besonders faszinierend ist die Art, wie Stoke mit dem Motiv der Familie spielt. Denn was bedeutet Familie wirklich? Schutz? Geborgenheit? Oder ist sie manchmal genau der Ursprung unserer tiefsten Ängste? In „Jägerskind“ ist Familie kein Hort der Liebe, sondern ein Ort der Kontrolle, des Schweigens, der Erwartung – ein Ort, an dem die Kinder nicht lernen zu träumen, sondern zu überleben. Und das auf eine Weise, die mich beim Lesen mehrfach hat innehalten lassen.

Man spürt auf jeder Seite, dass Rebekah Stoke keine Kompromisse macht. Sie zeigt das Dunkle, das Ungerechte, das Verstörende – aber nicht plakativ oder brutal um der Brutalität willen. Es ist die psychologische Gewalt, die hier alles dominiert. Die leisen Blicke, das Schweigen beim Abendessen, die unausgesprochenen Wahrheiten, die wie scharfe Klingen zwischen den Figuren hängen.

Am Ende blieb ich mit einem dicken Kloß im Hals und dieser einen Frage zurück: Wie gut kennen wir die Menschen, die wir unsere Familie nennen, wirklich?

„Jägerskind“ ist ein intensiver, düsterer Psychothriller, der sich in die dunklen Ecken menschlicher Beziehungen vorwagt. Er fordert seine Leser heraus, bietet keine leichten Antworten, aber dafür eine emotionale Tiefe, wie man sie in diesem Genre selten findet. Für mich ein weiterer Beweis, dass Rebekah Stoke zu den spannendsten Stimmen im deutschsprachigen Spannungsbereich gehört.

4 von 5 Sternen ⭐️⭐️⭐️⭐️ – aufwühlend, fesselnd und bitterböse gut.